Antragstellung auf eine Hilfe nach § 35a SGB VIII ¶
đ Der komplette Gesetzestext mit Anmerkungen: § 35a SGB VIII
GrundsÀtzliche fachliche Einordnung ¶
Liegt eine (drohende) seelische Behinderung vor?
Eine seelische Behinderung liegt vor, wenn eine psychische Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit lÀnger als sechs Monate besteht oder bestehen wird und die soziale Teilhabe wesentlich beeintrÀchtigt.
đ Erweiterte ErlĂ€uterung der Hilfe gemÀà § 35a SGB VIII
Beispiele:
- Anhaltende depressive Symptomatik mit sozialem RĂŒckzug und Schulvermeidung
- Angststörung, die zu regelmĂ€Ăigen Fehlzeiten oder kompletter Schulabstinenz fĂŒhrt
- Traumafolgestörung mit starker emotionaler Dysregulation
- ADHS mit massiven sozialen Konflikten, Ausschluss aus Gruppen, Leistungsabbruch
- Autismus-Spektrum-Störung mit deutlichen EinschrÀnkungen in Kommunikation und Interaktion
Abgrenzung:
- Nicht ausreichend: vorĂŒbergehende Krisen (z. B. Trennung der Eltern ohne anhaltende Symptome)
- Relevant: wenn Symptome chronifiziert, therapiebedĂŒrftig oder entwicklungshinderlich sind
Ist die seelische BeeintrĂ€chtigung ursĂ€chlich fĂŒr den Hilfebedarf? ¶
§ 35a greift, wenn die psychische Störung nicht nur Begleiterscheinung, sondern zentrale Ursache der Problemlagen ist.
Beispiele:
- Herausforderndes Verhalten resultiert aus Traumatisierung, nicht aus fehlender Erziehung
- Schulverweigerung aufgrund massiver Angst, nicht wegen fehlender Motivation
- Aggressionen als Ausdruck von Ăberforderung durch Reizoffenheit (z. B. ASS)
Hilfreiche Leitfrage:
âWĂŒrde sich der Hilfebedarf deutlich reduzieren, wenn die psychische BeeintrĂ€chtigung angemessen behandelt wĂ€re?â
Seelische Gesundheit â Diagnostik und Fachlichkeit ¶
Liegt eine fachlich anerkannte Diagnose vor?
Das Jugendamt benötigt eine qualifizierte Stellungnahme (nicht nur Verdachtsdiagnosen).
Beispiele fĂŒr geeignete Nachweise:
- FachÀrztlicher Bericht (Kinder- und Jugendpsychiatrie)
- Psychotherapeutische Stellungnahme (Approbation erforderlich)
- ICD-10 / ICD-11 Diagnose mit kurzer funktionaler Beschreibung
Nicht ausreichend:
- Schulische EinschÀtzungen ohne medizinische Einordnung
- PĂ€dagogische Vermutungen (âwir vermuten ADHSâ)
Ist die Diagnose aktuell und fachlich belastbar? ¶
Veraltete Diagnosen spiegeln oft nicht mehr die aktuelle LebensrealitÀt wider.
Orientierungswerte:
- Optimal: Stellungnahmen nicht Àlter als 6 Monate
- Maximal akzeptabel: ca. 12 Monate (je nach Verlauf)
Beispiel:
Ein drei Jahre alter Klinikbericht ohne aktuellen Bezug reicht meist nicht aus.
TeilhabebeeintrĂ€chtigung â der zentrale PrĂŒfpunkt ¶
In welchen Lebensbereichen ist die Teilhabe eingeschrÀnkt?
Teilhabe meint die aktive und altersangemessene Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben.
Schule / Ausbildung Beispiele:
- RegelmĂ€Ăige Schulverweigerung
- Massive Konzentrationsprobleme trotz Förderung
- Ausschluss vom Unterricht / Fördersettings ohne Erfolg
Soziale Beziehungen Beispiele:
- Keine tragfÀhigen Freundschaften
- HĂ€ufige Konflikte, Mobbing, soziale Isolation
- UnfÀhigkeit zur Gruppenintegration
Familie Beispiele:
- Dauerhafte Eskalationen
- RĂŒckzug, Vermeidung, emotionale Entkopplung
- Hohe Belastung des Familiensystems durch Symptomatik
Freizeit Beispiele:
- Kein Zugang zu altersgerechten FreizeitaktivitÀten
- Vermeidung von Vereinen, Gruppen, öffentlichen RÀumen
- Exzessiver RĂŒckzug in digitale Medien als BewĂ€ltigungsstrategie
Besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Erkrankung und TeilhabeeinschrÀnkung? ¶
Der Zusammenhang muss logisch und nachvollziehbar dargestellt werden.
Beispielhafte Formulierung (intern):
âDie ausgeprĂ€gte soziale Angst fĂŒhrt dazu, dass der junge Mensch schulische und auĂerschulische Gruppen konsequent vermeidet. Dadurch ist eine altersentsprechende soziale Teilhabe aktuell nicht möglich.â
PĂ€dagogische EinschĂ€tzung â fachlich fundiert, nicht pathologisierend ¶
Welche konkreten Beobachtungen liegen vor?
Beschreiben Sie beobachtbares Verhalten, keine Diagnosen.
Beispiele:
- HĂ€ufige emotionale Ăberforderung bei ĂbergĂ€ngen
- Selbstabwertende Aussagen
- RĂŒckzug nach sozialen Anforderungen
- ImpulsdurchbrĂŒche bei Ăberreizung
- Wo stoĂen pĂ€dagogische Mittel an Grenzen?
ErlÀuterung:
Wichtig fĂŒr die BegrĂŒndung der ZustĂ€ndigkeit nach § 35a.
Beispiele:
- Struktur und Beziehung allein stabilisieren nicht ausreichend
- PĂ€dagogische Interventionen greifen nur kurzfristig
- Symptomatik ist therapiebedĂŒrftig und nicht rein erzieherisch beeinflussbar
Beteiligung des jungen Menschen ¶
Versteht der junge Mensch den Antrag und seine Bedeutung?
Beteiligung ist Pflicht, keine Formalie.
Beispiele guter Praxis:
- ErklÀrung in einfacher Sprache
- KlĂ€rung von Sorgen (âBin ich jetzt krank?â)
Betonung von UnterstĂŒtzung statt Defiziten
Zusammenarbeit mit externen Fachstellen ¶
Sind die EinschÀtzungen konsistent?
WidersprĂŒche zwischen PĂ€dagogik, Schule und Therapie schwĂ€chen den Antrag.
Beispiel:
Wenn Schule von âfehlender Motivationâ spricht, Therapie aber eine Angststörung beschreibt, sollte dies fachlich eingeordnet werden.
Formale Antragstellung â inhaltlich prĂ€zise ¶
Ist der Hilfebedarf konkret benannt?
- Strukturierende UnterstĂŒtzung zur Teilhabesicherung
- Begleitung bei emotionaler Regulation
- Schnittstelle zwischen Therapie, Schule und Alltag
- Schutz vor Ăberforderung
Nicht ausreichend: âMehr UnterstĂŒtzung wird benötigt.â
Hilfeplanung â realistisch und ĂŒberprĂŒfbar ¶
Sind Ziele teilhabeorientiert formuliert?
Beispiele:
- RegelmĂ€Ăige schulische Teilhabe (z. B. X Tage/Woche)
- Aufbau sozialer Kontakte
- Stabilisierung emotionaler Selbststeuerung
- Reduktion von Kriseninterventionen
AbschlieĂender fachlicher Hinweis
Eine Umwandlung zu § 35a ist kein Scheitern pÀdagogischer Arbeit, sondern Ausdruck einer passgenauen rechtlichen und fachlichen Zuordnung.
Je klarer Diagnostik, TeilhabeeinschrÀnkung und pÀdagogische Grenzen beschrieben sind, desto tragfÀhiger ist der Antrag.